Unbestritten ist Philipp Blom, geb. 1970, einer der wichtigsten und hellsten Köpfe Europas. Heuer war es an ihm, die Festansprache zur Eröffnung der Salzburger Festspiele zu halten. Es war für mich eine der geistreichsten, wichtigsten und notwendigsten Reden der letzten Zeit, in der wir alle so viele Aussagen, Reden, Kommentare und Meinungen erdulden müssen, die das Eine an sich haben, sich an Populismus, Oberflächlichkeit und Dummheit zu überbieten.
Wir Österreicher können stolz sein, dass der im Hamburg geborene Philipp Blom seit über 10 Jahren in Wien ansässig ist. Der studierte Philosoph und Historiker schreibt für alle wichtigen Zeitungen im großbritannischen und deutschsprachigen Raum (so auch für den Standard) und modert regelmäßig in Ö1.
Philipp Bloms Bücher zählen für mich zu weisesten und scharfsinnigsten der gegenwärtigen Sachbuchszene.
Ich weiß, dass ich Ihnen als Leser meines Blogs viel zumute, wenn ich Ihnen den Text seiner Rede ans Herz lege. Sie werden es, soviel kann ich Ihnen versprechen, nicht bereuen, eine Viertel Stunde Ihres Lebens dafür verwendet zu haben. Es ist eine Rede, die ich gerne selbst geschrieben hätte und die mir aus der Seele gerissen ist.
PHILIPP BLOM: Wir sind alle Kinder der Aufklärung
Festansprache zur Eröffnung der Salzburger Festspiele am 27. Juli 2018
I
Ich bin als Kind der Aufklärung aufgewachsen und hatte das Glück, in einem Haus voller Bücher zu leben. Das hat meine Fantasie befeuert, wenn auch manchmal ganz anders als erwartet.Ein Beispiel: Wie alle Vierzehnjährigen fand ich das Leben überwältigend und unerklärlich — also griff ich in den Bücherschrank und fand Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Ich hatte gehört, dass das ein großes Buch sei, und ich hoffte, die Philosophie würde mir mein Leben erklären, in klaren Sätzen und Regeln.
Das Ganze war irgendwie erhaben und klang sehr beeindruckend, aber es machte mich ratlos. Mein Leben stand Kopf, und das System des großen Kant hatte nichts dazu zu sagen. Wie viele hoffnungsvolle Leser vor und nach mir legte ich das Buch enttäuscht zur Seite.
Und trotzdem war da diese Idee, in die ich mich — ich war schließlich im richtigen Alter — unsterblich verliebte: die Behauptung, dass ich einen Pfad durchdiese chaotische Welt aufspüren könne und die dafür nötige Landkarte nicht in einer heiligen Schrift zu finden sei, nicht in einer Bibliothek oder einem Mythos —sondern in mir, in meiner Vernunft: einer Fähigkeit zu denken, die allen Menschen eigen und so natürlich wie das Atmen ist.
Aus der ersten intellektuellen Liebe ist eine lebenslange, nicht immer reibungslose Beziehung zum methodischen Denken geworden, eine seltsame Fernbeziehung zu jenen leuchtenden Ideen von Leuten, die längst nicht mehr am Leben sind.
Die für mich wichtigste Begegnung dieser Art war die mit dem unwiderstehlich sinnenfreudigen und scharfsinnigen Denis Diderot im vorrevolutionären Frankreich, der als Herausgeber der großen Encyclopédie bekannt wurde und der in seinen Briefen, literarischen Texten und Essays ein radikal humanistisches Weltbild erschrieb und erdachte.
Diderot und die anderen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts lebten zu einer Zeit, in der die hellsten Köpfe gerade begannen, die ersten Atemzüge der Moderne zu spüren.
Bei ihnen lernte ich, dass weder die Aufklärung noch die Philosophie überhaupt aus einem Katalog von Lehrsätzen und dicken Büchern besteht, sondern aus einer Landschaft von Debatten, Provokationen, Entwürfen und Experimenten. Philosophie ist, wie die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch es formuliert, „riskantes Denken“.
In einer Welt, in der die Macht von Thron und Altar absolut war, wagten es diese Denker, alles um sich herum und in sich selbst in Frage zu stellen und neu zu begreifen. Sie ließen sich durch Zensur und Geheimpolizei nicht einschüchtern und riskierten sogar, durch ihre skandalösen Gedanken über Religion und über Menschenwürde zu Fremden im eigenen Land und in der eigenen Familie zu werden.
Trotz dieser oft sehr realen Gefahren erwies sich das klare Denken als unwiderstehlich und hat dadurch unsere Gegenwart geprägt: Menschenrechte,liberté — égalité — fraternité, life — liberty — and the pursuit of happiness, Demo kratie, Naturwissenschaft, die Befreiung der Sklaven, das Ende der Kirchen herrschaft und die Emanzipation der Frauen wären ohne die Aufklärung buch stäblich undenkbar.
II
„Wir sind alle Kinder der Aufklärung.“
Dieses Bekenntnis ist inzwischen zur Phrase verkommen. Politiker, Journalisten und Historiker reden so, als wäre es eine selbstverständliche Tatsache.
Dabei widerlegt gerade die Gegenwart ganz offensichtlich solche Bekenntnisse, denn es hat in westlichen Ländern seit dem Ende des Totalitarismus keinen so weitreichenden und mächtigen Angriff auf die Aufklärung gegeben wie heute.
Die Aufklärung ist der Versuch, das kritische Denken und den Respekt vor Fakten höher zu achten als Meinungen, Vorurteile, Gefühle, Traditionen oder Dogmen. Dieses Prinzip ist plötzlich in die Defensive geraten:
In Zeiten von Fake News, in denen Faktenwissen von Filterblasen abgewehrt wird, ein amerikanischer Präsident sich selbst als Lügner täglich überbietet und in denen auch hierzulande „stichhaltige Gerüchte“ bemüht werden, um die alte Mär von der jüdischen Weltverschwörung wieder wach zu kitzeln, muss man diesen Punkt nicht weiter ausführen.
Auch die universellen Menschenrechte sind längst zu einer rhetorischen Beschwichtigung zusammengeschnurrt. Denn selbstverständlich gilt global ein ZweiKlassenMenschenrecht. Wer im reichen Westen geboren ist, hat mehrRechte, mehr Freiheiten, mehr Chancen — und das auch auf Kosten anderer.